In der populären Vorstellung der Auswanderung des 19. Jahrhunderts findet sich gern das Stereotyp von Armut als entscheidender Faktor. Bezug wird dabei gern auf den Pauperismus in den 1830er und 1840er Jahren genommen, der übrigens immer noch als Hinweis auf die negativen Folgen der Industrialisierung verstanden wird (was nur begrenzt zutrifft; es ist eher Hinweis darauf, dass die internationale Wirtschaft schon damals stark vernetzt war und protoindustrielle, heimgewerbliche Regionen kaum Chancen gegen die neue Massenproduktion von Fabriken hatten, aber das ist noch eine andere Geschichte, die separat diskutiert werden müsste).
Entscheidender ist, ob Armut als Kategorie ausreicht, um Massenauswanderung erklären zu können. Sicherlich wurden einige Auswanderer von der Not dazu getrieben, das Land zu verlassen, aber viele hatten erstaunlicherweise auch Geld dabei, und vor allem gingen sie bewusst Risiken ein. Ich meine, Rolf Engelsing hat mal bei den Auswanderern von einer "unternehmerischen Masse" gesprochen. Sieht man sich zeitgenössische Berichte an, so ist oft von dem Wunsch die Rede, es zu etwas zu bringen, "weiter" zu kommen, d.h. individuellen Aufstieg zu schaffen. Auch wurden erstaunlicherweise nur selten die ungünstigen Rahmenbedingungen (Klima, Sprache etc.) bemängelt, sondern es gab durchweg die Erwartung, dass sich harte (!) Arbeit lohnen würde, während genau dies für das Heimatland als nicht gegeben angesehen wurde. Hier, im Einwanderungsland, konnte man es zu etwas bringen, wenn man hart arbeitete, das war die Maxime. Spannend wäre es einmal, sich diese Vorstellungen und Konzepte von Arbeit einmal genauer anzusehen. Armut reicht jedenfalls nicht allein aus, es kamen andere, wichtige Faktoren dazu.
Das erwähnte Zitat müsste entstammen: Engelsing, Rolf: Bremen als Auswandererhafen 1683 - 1880, Bremen 1961 (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen 29).
KHSchneider - 22. Jul, 14:14
Eigentlich haben sich Zuordnungen wie Lokalgeschichte, Nationalgeschichte oder transnationale Geschichte beinahe aufgelöst. Zumindest dann, wenn wir den historischen Akteuren folgen. Unser kleines, jetzt sich allmählich seiner Fertigstellung näherndes Projekt über die Briefe der 1858 von Niedersachsen nach Kalifornien mit ihrem Mann ausgwanderten Sophie Meinecke zeigt dies immer wieder. Sie und die uns bekannten Angehörigen ihrer Familie sind viel unterwegs, sie halten sich weder an nationale noch kontinentale Grenzen. Sie wechseln zwischen Kulturen und Räumen. Ihnen dabei zu folgen und zudem die historischen Kontexte zu rekonstruieren, ist allerdings nicht leicht. Ohne die Briefe wäre dies nicht möglich gewesen, aber auch nicht ohne die Möglichkeit des Internet. Websites wie Familysearch oder private Seiten haben uns genauso wertvolle Hilfe geleistet wie Google Books oder Archive.org. Klar, es bleiben immer noch viele Fragen, aber erstaunlich viele konnten wir online beantworten. Die Ergebnisse unserer Recherchen werden wir auf der Lernwerkstatt veröffentlichen und hoffentlich auch als Buch.
Übrigens haben wir auch intensiven Gebrauch von Google Docs und Zotero gemacht - auch hier konnten wie unsere Arbeit besser abstimmen als dies mit traditionellen Methoden möglich gewesen wäre.
KHSchneider - 7. Sep, 21:49
KHSchneider - 18. Nov, 08:42