Die aktuelle Debatte
um die Landwirtschaft wirft die Frage nach Alternativkonzepten auf und in den Feuilletons der Zeitungen schimmert dann immer wieder der Rückgriff auf die Vergangenheit durch, so, als sei es die moderne Landwirtschaft, die eine gesunde Ernährung verhindere. Nun liegt hier einiges im Argen, daran besteht kein Zweifel, nur gibt es nicht die einfachen Konzepten und ein Rückgriff auf die Vergangenheit läßt die aktuelle Entwicklung vielleicht deutlicher hervortreten, bietet aber keine einfachen Lösungsansätze. Dafür sind - allein aus einer europäischen Perspektive - vornehmlich drei Gründe anzuführen:
Zum einen: In der Vormoderne, damit auch vor der Existenz der industriellen Landwirtschaft, haben die Menschen nicht besser gelebt, sondern wesentlich einfacher und oft deutlich schlechter. Die Qualität der meisten Lebensmittel war meist gering, zuweilen gesundheitsgefährdend. Was "damals", also zumindest vor 1800 von den einfachen Menschen gegessen wurde, würde heute kaum jemand akzeptieren. Zudem war die Auswahl an Lebensmitteln sehr begrenzt, die meisten lebten zwischen 1600 und 1800 vornehmlich von Getreide und Breien, dazu Bohnen und Erbsen. Selten gab es Fisch oder Fleisch. Übrigens war die fleischarme Ernährung noch bis weit in das 20. Jahrhundert der Standard bei großen Teilen auch der mitteleuropäischen Bevölkerung.
Zum anderen: Nahrungsmittel waren nicht nur von geringer Qualität, sondern sie waren knapp. Der Titel eines Klassikers der Wirtschaftsgeschichtsschreibung von Wilhelm Abel "Massenarmut und Hungerkatastrophen" zeigt dies sehr anschaulich. Selbst in Mitteleuropa bildeten Hungersnöte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eine der ganz großen Plagen der Menschen. Danach setzte ein Prozess ein, der nach und nach die Ernährung der Menschen in Europa verbesserte (aber lange noch weit von den Standards weg war, die wir heute kennen), während sich in anderen Teilen der Welt teilweise katastrophale Hungerszenarien abspielten.
Und zum dritten: Selbstversorgung spielte zwar in der "alten" Landwirtschaft eine wesentlich größere Rolle als heute (und noch bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts). Aber sie sicherte nicht das Überleben der Menschen. Marktbeziehungen konnten Forscher wie Wilhelm Abel schon spätestens seit dem Mittelalter nachweisen. Die Höhe der Getreidepreise entschied dabei nicht nur über Sattwerden, Hungern oder gar Verhungern, sondern auch über Wohlstand oder Armut. Es gab überregionale und regionale Getreidemärkte. Die überregionalen litten zwar unter den hohen Kosten für Verkehr und Zöllen, aber es gab sie. Die regionalen bestanden nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern auch zwischen einzelnen Regionen. So gab es sowohl in Flandern, aber auch in Ostwestfalen Gebiete mit vorrangiger Landwirtschaft und solchen, in denen die meisten Menschen im Heimgewerbe arbeiteten und ihre Produkte für überregionale Märkte verkauften. Sie waren wiederum auf den Ankauf von Lebensmitteln angewiesen, die von den Bauern in der Nachbarschaft geliefert wurden.
Das sind nur ein paar Anmerkungen, sie zeigen aber: Landwirtschaft auch in der Vormoderne war wesentlich komplexer und marktorientierter als dies manche heute gern sähen.
Wenn man ganz radikal sein will, dann erhebt sich die Frage, ob der Übergang von den Jägern und Sammlern zu den Bauern nicht die entscheidende Verschlechterung darstellte. Jared Diamond hat sie jedenfalls vor ein paar Jahren gestellt, aber dies wieder eine andere Frage.
Diamond, Jared (2007): “The Worst Mistake in the History of the Human Race.” http://www.mnforsustain.org/food_ag_worst_mistake_diamond_j.htm
Die zitierten Bücher von Wilhelm Abel sind:
ABEL, Wilhelm: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis. Hamburg und Berlin: 1974.
ABEL, Wilhelm: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land-und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter. Berlin: 3. Auflage. Aufl. Parey, 1978.
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