Das Dorf und die Bewegung
Die Frage, was überhaupt ein Dorf ausmacht, ist eine, die mich seit Jahren bewegt und beschäftigt. In den letzten Jahren stellt sie sich erneut für mich verstärkt. Zum einen deshalb, weil ich für einen früheren Wohnort an einer Ortsgeschichte mitschreibe und im Prozess des Recherchierens und Schreibens dieses Dorf (bzw. dieser beiden Dörfer) erneut entdecke. Dabei stoße ich immer wieder auf die Tatsache, dass nur ein Teil der Menschen im Dorf dort auch geboren worden ist und sein Leben nur dort verbracht haben. Allerdings handelt es sich um Arbeiterdörfer, für die vielleicht andere Regeln gelten als für das, was die meisten unter einem richtigen "Dorf" verstehen. Also eines mit Bauern.
Bei der Recherche für Krainhagen - so heißt eines der beiden Dörfer - habe ich zunehmend auch das Netz genutzt. Wichtige Datenbanken, die Auskünfte über Lebensläufe geben können, finden sich dort, etwa zur Auswanderergeschichte oder - was mich in der letzten Zeit beschäftigt hat - der Geschichte der beiden Weltkriege. Das Netz bietet plötzlich gänzlich neue Möglichkeiten der Mikrogeschichte: wir können, zumindest in Ansätzen, den Menschen auf ihren Wegen folgen, sind also nicht mehr an die ortsgebundenen Quellen der einzelnen Archive gebunden, deren Akten vorwiegend den Ort und die dort lebenden Menschen im Fokus haben.
Derzeit lese ich erneut die Geschichte des Knechts und Tagelöhners Franz Rehbein, dessen 1907 erschienene Lebenserinnerungen als Einstiegslektüre für ein Seminar über Landarbeiter dienen sollen. Rehbein stammte aus einem pommerschen Dorf, sein Vater war Schneidermeister, der auf seine Ehre achtete, aber sonst mit seiner Familie ein armseliges Leben führte. Rehbein ging früh aus Pommern weg, überall sonst auf der Welt schien das Leben mindestens genau so gut zu sein. Seine ersten Stationen waren in Schleswig-Holstein, wo er auf mehreren Gütern und Bauernhöfen als Knecht arbeitete. Das spannende an dieser Phase sind mehrere Aspekte: Zum einen arbeitete er als Knecht nur selten mehr als ein Jahr auf einem Hof. Er wanderte also über die Dörfer. Er beschreibt aber auch seine Bauern. Und auch diese waren offenkundig nicht auf ein Dorf fixiert, sondern lebten in einem über mehrere Dörfer sowie benachbarte Flecken verteilten bürgerlich-bäuerlichen Netzwerk. Wohlgemerkt, diese Geschichte spielt sich ungefähr in den späten 1880er Jahren ab. Das Dorf als solches spielt dabei keine nennenswerte Rolle. Das mag auch mit den Siedlungsgegebenheiten der Marsch zusammen hängen. Aber der Befund entspricht in vielen Punkten dem, was wir aus anderen Studien entnehmen könnten: Dörfer sind zwar keine reinen Recheneinheiten, die lediglich für die Obrigkeit relevant waren, sie waren und sind auch wichtige Siedlungs-und Sozialräume. Aus der Perspektive der einzelnen Akteure sieht es aber oft etwas anders aus. Dann konkurriert der Sozialraum Dorf mit anderen sozialen Räumen. Unterschiede kann es bei den jeweiligen Gruppen gegeben zu haben, aber der seinen Leben lang an einem Ort verbringende Dorfbewohner stellte sicherlich nur ein von vielen Typen dar.
Dörfer waren nicht nur in Bewegung (so ein Buch von Stephan Beets), sondern die Menschen, die in Dörfern lebten, waren es und zwar in einem sehr hohen Maße. Ich habe allerdings Hemmungen, in diesem Kontext von Migration zu sprechen. Trotz der Bedeutungserweiterung, die dieser Begriff in den letzten Jahren erfahren hat (weg von der vermeintlich einmaligen Wanderung von einem Ort an einen anderen), war Bewegung mehr, nämlich ein integrativer Bestandteil der Existenz von einem vermutlich gar nicht so geringen Teil der Landbevölkerung. Bewegung heißt hier auch Bewegung im realen und im sozialen Raum. Rehbein akzeptiert zwar teilweise die Begrenzungen seiner Knechtexistenz, aber auch nur teilweise, er sucht auch den sozialen Aufstieg.