Dorfgeschichten
Vorweg:
Ich komme vom Dorf, einem richtigen Dorf mit damals 300 Einwohnern und ich kenne noch das Dorf, dem noch viele nachtrauern, dem mit Bauern und Landarbeitern, mit einem Dorfladen, einem Bäcker, einer Post, einer Kleinbahn, einer Molkerei, einer Ziegelei. Das Ende der meisten dieser Einrichtungen habe ich sogar auch noch erlebt, als ich Mitte der 1970er Jahre verlassen habe. Danach habe ich noch einmal 18 Jahre in zwei größeren Dörfern gelebt und "nebenbei" in vielen Dörfern als Historiker gearbeitet (Projektseminare zu Dorfgeschichte, begleitende Veranstaltungen zur Dorferneuerung), habe Weiterbildungskurse für Heimatforscher gegeben und dazu auch kleine Bücher produziert. Mein Dorfbild ist also sehr konkret und es ist eines aus der Perspektive von unten, denn meine Familie gehörte zu den "kleinen Leute", Tagelöhner, Mägde, Schneider, Ziegeleiarbeiter, Arbeiter. Außerdem und vor allem habe ich mich wissenschaftlich immer wieder mit ländlichen Themen beschäftigt. Das, was ich hier jetzt schreibe, ist aber dennoch eine Zumutung, denn es fasst Dinge zusammen, die jeweils für sich lange Forschungsdiskurse benötigen. Dazu fehlt mir im Augenblick die Zeit und deshalb diese kritische Skizze.
Die sehr unterschiedlichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnten haben den Blick vielleicht geschärft für manche verharmlosenden Bilder vom Dorf, vom vermeintlich einfachen Leben auf dem Lande, von der Dorfgemeinschaft. So wie es immer wieder selbst in wissenschaftlichen Werken beschrieben wird, habe ich Dorf weder auf der einen (der eigenen Erfahrung vornehmlich in den 60er Jahren) noch der anderen Seite (bei Weiterbildungen in vielen norddeutschen Dörfern und als Wissenschaftler) erlebt. Diese einfachen Bilder vom bäuerlichen Dorf, von Gemeinschaft und von Stabilität sind mir genau genommen nur selten begegnet. Dagegen gab es immer mehr Bewegung, immer mehr Hierarchie und mehr Konflikt als dies in den meisten Darstellungen angedeutet wird.
alternative Wahrnehmungen von Dorf: Bewegung, Hierarchie, Konflikt
Zur Bewegung: Dorfbewohner waren auch in der Vergangenheit in Bewegung, sie waren mobil. Das widerspricht gewiss unseren allgemeinen Vorstellungen von einem abgeschlossenen Lebensbereich Dorf. Es widerspricht auch der Vorstellung von einem auf Subsistenz angelegten ländlichen Leben. Klar, die Gesellschaft der Vormoderne war ländlicher, viel ländlicher als unsere heutige Gesellschaft zumindest in Mittel- und Nordeuropa. Aber wenn praktisch alle gesellschaftlichen Gruppen eine mehr oder wenige enge Bindung an das Land benötigten (in den Städten gab es die Ackerbürger, der Adel bewirtschaftete Güter, Bürger taten es ihnen gleich, viele Beamte hatten ebenfalls eine agrarische Basis), dann war die agrarische Basis fast aller Dorfbewohner nichts Besondereres. Aber wie genau sah sie aus? Zur Beantwortung dieser Frage müsste eine starke regionale Differenzierung vorgenommen werden. Jedenfalls beruhte sie nicht allein auf der Landwirtschaft, sondern es gab starke gewerbliche Anteile, speziell in den Dörfern mit heimgewerblichen, protoindustriellen Ansätzen. Die interne Differenzierung der Dörfer dürfte aber auch in anderen Regionen viel stärker gewesen sein als dies vereinfachte Bilder vom Dorf immer nahe legen. Wir wissen etwa von Regionen, in denen viele Dorfbewohner als Wanderarbeiter, als Wanderhändler (etwa die Tödden) oder als Musiker unterwegs waren. Beschäftigte in herrschaftlichen Forsten oder Bergwerken gab es ebenfalls. Das Spektrum der Tätigkeiten war oft sehr groß und läßt sich nicht allein auf agrarische Tätigkeiten reduzieren. Dass praktisch jeder versuchte, über wenigstens etwas Zugang zu Land (Pachtland und/oder Gemeindeland) ein wenig Viehwirtschaft und Ackerbau betreiben zu können, war Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen Praxis. Diese Gruppen auch zu den Bauern zu zählen, mag vielleicht in Süddeutschland angemessen sein (aber auch da habe ich meine Zweifel, jedenfalls aber nicht im Norden). Wenn alle gesellschaftlichen Gruppen es als selbstverständlich ansahen, dass landwirtschaftliche Produktion einen Teil der eigenen Existenz ausmachte, können nicht alle Dorfbewohner mit Zugang zum Land als "Bauern" bezeichnet werden. Ich weiß, dass dies ein Position ist, die von dem internationalen Begriff der "peasants" abweicht, jedoch ist er in meinen Augen für die nord- und nordwestdeutschen Dörfer angemessener.
Die Bauern im engeren Sinn, also die großen und mittleren Betriebe, die von ihren Höfen allein leben konnten, waren spätestens seit 1700, oft aber auch schon vorher eine zahlenmäßige Minderheit im Dorf.
Damit ist aber auch das Konstrukt der Dorfgemeinschaft, bis ins 20. Jahrhundert immer wieder von bürgerlichen Apologeten des Dorfes betont, eine in sich fragwürdige Angelegenheit. Betrachtet man etwa die innerdörflichen Auseinandersetzung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann im Jahr 1848, so wird deutlich, dass die Interessen der verschiedenen Gruppen im Dorf keineswegs identisch waren, sondern weit auseinander klaffen konnten. Das ist auch nicht verwunderlich, denn der Zugang zum Land entschied grundlegend über die Stellung im Dorf. Doch auch wenn die Bauern im engeren Sinn eine zahlenmäßige Minderheit darstellten, so verfügten sie doch über den größten Teil des Landes. Sie waren zwar feudal gebunden, aber das bedeutete nicht, dass sie eine entscheidende Rolle im innerdörflichen Sozialsysem hatten. Vielmehr war ihr fast exklusiver Zugang zum Land gekoppelt mit ihrer bedeutenden Rolle als Arbeitgeber, und zwar nicht nur für die saisonalen Feldarbeiten, sondern auch für die Heranziehung der dörflichen Unterschicht zu feudalen Dienstleistungen, die zwar die Bauern zu sichern hatten, die aber faktisch von den Angehörigen der dörflichen Unterschicht zu erbringen waren. Mit der Modernisierung der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert und den dadurch erhöhten Arbeitsaufwand verstärkten sich diese Abhängigkeiten. Allerdings konnten nun die Unterschichten eher ausweichen, zunächst in die Amerika-Auswanderung, dann in die Industrie bzw. in die Städte. Es setzte ein verbissener Kampf um die zur Abwanderung bereiten Dorfbewohner ein, der auch ideologisch ausgefochten und umgedeutet wurde. Aus einer bewußten Entscheidung der Dorfbewohner gegen ein wenig selbstbestimmtes Leben im Dorf und für den Aufbruch in neue Möglichkeiten wurde - ganz im Sinne bürgerlich-konservativer Ideologen - eine von den Städten und der Industriegesellschaft verursachte "Landflucht". Sie geistert bis heute in den Köpfen nicht nur mancher Ideologen, sondern auch von Sozialwissenschaftlern, Planern und Architekten herum. Dahinter steckt offenbar die Vorstellung, dass das Dorf als "Sozialraum" trotz mancher Interessengegensätze eine heile Welt darstellt, die erst durch außerdörfliche Störungen aus dem Gleichgewicht gerät.
Würde man sich vom "Sozialraum" oder der "Dorfgemeinschaft" abwenden und konkreter die in Dörfern lebenden Menschen und deren Wege über Generationen hinweg untersuchen, könnte eine Bild entstehen, das nur noch wenig gemein hat mit diesen Bildern abgeschlossener soziale Beziehungen. Hier hilft schon der Blick auf die einzelnen sozialen Gruppen im Dorf. Bauern waren untereinander verwandt (und ja, auch mit den Unterschichten, aber zu denen gleich), sie heirateten in recht geschlossenen Kreisen untereinander. Das allein schloss rein innerdörfliche Beziehungen aus, denn dafür gab es überhaupt nicht genügend Personen, die als Heiratspartner infrage kamen. Also wurde nicht im Dorf, sondern in kleinen Regionen geheiratet, die in der früheren Forschung auch als "Heiratskreise" bezeichnet wurden. Nimmt man Verwandtschaft als ein wichtiges strukturierendes Element dörflicher Beziehungen, so war diese schon aufgrund dieser Heiratskreise eben nicht innerdörflich organisiert, sondern über mehrere Dörfer hinweg, wobei hier keine genauen Grenzen gezogen werden können. Kein Wunder also, dass Bauern sich über Dörfer hinweg untereinander trafen und ihr soziales Leben pflegten.
War es für die bäuerliche Bevölkerung die Notwendigkeit, geeignete Heiratspartner zu finden, die zu dazu "zwang" sich außerhalb des eigenen Dorfes zu orientieren, so waren es für die unterbäuerlichen Dorfbewohner andere Sachzwänge, die sie zur Mobilität zwangen und zwar die fehlenden Wohn- und die oft nicht dauerhaften Arbeitsmöglichkeiten. Die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in manchen Regionen schnell anwachsenden besitzlosen Unterschichten wohnten als Mieter (auch Mietlinge, Einlieger oder Heuerlinge bezeichnet) bei Bauern. Daraus wurden, ganz im Sinne konservativer Ideologen, "patriarchalische" Beziehungen gemacht, in denen sich die Bauern für "ihre" Heuerlinge verantwortlich fühlten. Spätestens mit der Arbeit von Josef Mooser sollten aber diese Vorstellungen genügend dekonstruiert sein. Als ich übrigens vor über 20 Jahren in einer Siedlung im nordwestlichen Niedersachsen, die bis in die 1960er Jahre ebenfalls Heuerlinge aufwies, gearbeitet habe, wurde mir noch sehr deutlich gemacht, wie abhängig Heuerlinge von "ihren" Bauern waren, die sie notfalls über Nacht von den Stellen werfen konnten, die frei über die Arbeitszeit verfügten und ihre Macht ausspielten. Gleichzeitig wollte niemand zunächst so recht über diese Stellen sprechen, die übrigens in den 1960er Jahren meist bei Feuerwehrübungen "entsorgt" wurden. Das Stigma von Abhängigkeit und Armut war noch zu bekannt!
Unterschichtangehörige mussten mobil sein, sie hatten keine andere Chance, ihre Existenz in dem einen Dorf dürfte - aber darüber wissen wir zu wenig - wenn überhaupt die Ausnahme gewesen sein.
Jetzt könnte man einwenden, ob es denn das "Dorf" mit seinen kulturellen, sprachlichen und sozialen Eigenheiten überhaupt gab. Ja, es gab es, denn dazu waren die Einwohner in ihrem Alltagsleben zu sehr aufeinander bezogen. Aber dieser "Sozialraum" war nicht exklusiv, sondern er stand in Beziehung und vielleicht auch in Konkurrenz zu anderen sozialen und kulturellen Beziehungen, in denen die Dorfbewohner als Individuen und Angehörige von Gruppen standen.
Bleibt noch die vermeintliche Statik oder vielmehr die Dualität der Wahrnehmung von Dorfgeschichte. Dualität meint: das alte Dorf vor der Moderne und das neue Dorf in der Moderne, wobei die Bruchstelle irgendwo zwischen dem Kaiserreich und der Bundesrepublik liegt, immer aber als eine Verlustgeschichte wahrgenommen wird.
War sie das wirklich? Und vor allem: Gibt es vor der Moderne keine Geschichte des Dorfes? Es spricht einiges dafür, dass Dörfer immer Teil gesellschaftlicher Entwicklungen waren, d.h. in diese integriert waren. Zwar war allein ihre quantitative Bedeutung in der Vergangenheit schon allein deshalb größer, weil die Mehrzahl der Menschen auf dem Lande lebte und die Landwirtschaft der mit Abstand wichtigste produktive Bereich der Gesellschaft war. Aber das bedeutete nicht, dass damit Dörfer so etwas wie autonome Lebensbereiche darstellten. Sie waren - zumindest seit dem hohen Mittelalter - in Marktbeziehungen eingebunden, sie waren abhängig von herrschaftlichen Entscheidungen etwa über feudale Abhängigkeit oder über Erbrechte.
Spätestens mit dem 18. Jahrhundert entwickelten sich komplexe Formen der Verknüpfung lokaler und globaler Strukturen über die Protoindustrialisierung, die sowohl ökonomische wie soziale Prozesse auslösten, welche dörfliche Existenz entscheidend prägten. Die Krisenerfahrung des frühen 19. Jahrhunderts war nicht zuletzt eine Folge des Zusammenbrechens dieser komplexen und international vernetzten Ökonomie, die nur auf den ersten Blick lediglich lokal oder regional verankert war. Es wäre sicherlich spannend, sich einmal anzusehen, wie in Regionen mit unterschiedlichen Vernetzungsgraden sich diese Krisenphase des frühen 19. Jahrhunderts auswirkte.
Der nächste, nicht zu unterschätzende Entwicklungsschritt wurde durch die Agrarreformen markiert, wobei neben der Bauernbefreiung im engeren Sinn die Veränderung der Feldnutzung durch Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen zu beachten wäre. Diese Reformen wurden im Norden - d.h. sowohl im Nordwesten, im Norden als auch im Nordosten - schon sehr früh betrieben, im Westen und Süden dagegen viel später. Die Auswirkung dieser Reformen auf kommunale Strukturen und auf ökonomisches Verhalten ist bislang nicht vergleichend betrachtet worden, obwohl schon Zeitgenossen wie der Celler Salomon Gans vor deren schädlichen Folgen warnten.
Immerhin brachte die Industrialisierung einen ökonomischen und kulturellen Schub für die Dörfer. Für die Unterschicht bedeutete die Eigentumsübertragung des Landes an die Bauern endlich die Chance, auch Haus- und Grundbesitzer zu werden, wenn auch nur in bescheidenem Umfang und so, dass dadurch keine neuen dynamischen Entwicklungen wie in der Phase der Protoindustrialisierung eingeleitet wurden. Allerdings wurden mit der Industrialisierung und Urbanisierung die Dinge immer komplizierter, weil die realen Entwicklungen so disparat verliefen und gleichzeitig die Wahrnehmung dieser Entwicklungen ideologisch so beeinflusst war, dass es sehr schwer ist, sich hierdurch zu bewegen. Wie das geschehen kann, zeigt zumindest die Studie von Robert von Friedeburg.
Was allerdings fehlt, ist eine Einbeziehung dörflicher, lokaler Verhältnisse in überregionale, ja globale Kontexte. Wenn in der Zeit zwischen 1870 und 1945 sich eine neue globalisierte Welt entwickelte, dann müßte doch gerade das Dorf, das in dieser Zeit zum Hort aller modernisierungsfeindlichen Ideologen wurde, sich gerade in diesem Kontext neu entwickelt haben. Oder anders herum: Wenn die Dörfer vor 1850 ihre Existenz den Folgen der ersten großen Globalisierung in Form der Protoindustrie zu verdanken hatten, was bedeutete dann die nächste Phase als die Landwirtschaft von der nächsten Globalisierungswelle getroffen wurde, für die Interpretation des Dorfes? Wir tun dagegen immer so, als sei dies die "gute alte Zeit" gewesen.
Die Anerkennung der Tatsache, dass das Kaiserreich keineswegs der Nukleus des "richtigen Dorfes" war, sondern eine massive Modernisierungs- und Beschleunigungsphase darstellte, würde uns auch die Chance geben, die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gelassener wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es würde auch die Möglichkeit bieten, vor dem Hintergrund der ideologischen Kämpfe des Kaiserreichs gegen eine Industrialisierung und Urbanisierung der Gesellschaft mit all ihren sozialen und kulturellen Konsequenzen, einen neuen Zugang zu finden, der jenseits der Klagen über die Zerstörung dörflich-ländlicher Strukturen zugunsten der Städte auch die Entwicklungen berücksichtigt, die aus der Perspektive vieler Dorfbewohner positiv bewertet wurden. Das jedenfalls habe ich bei meinen Arbeiten in vielen Dörfern erfahren, das 20. Jahrhundert als eine Phase der Emanzipation von den Zwängen des alten Dorfes, der Bevormundung durch dörflich-bäuerliche Eliten, der Chancen individueller Lebensentwürfe, speziell für Frauen. Das ist allerdings eine andere Geschichte als die, welche landauf, landab erzählt wird. Sie ist in den letzten Jahren vermutlich durch viele weitere Erfahrungen ergänzt und überlagert worden.
Erwähnte Literatur:
Friedeburg, Robert von: Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit: Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1997 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 117).
Mooser, Josef: Ländliche Klassengesellschaft 1770 - 1848 - Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Bd. 64 /, Göttingen 1984 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft).
Jacobeit, Wolfgang; Mooser, Josef (Hg.): Idylle oder Aufbruch?: das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert ; ein europäischer Vergleich, Berlin 1990.
Grundlegend zur Geschichte des Dorfes:
Troßbach, Werner; Zimmermann, Clemens (Hg.): Geschichte des Dorfes, Stuttgart (Hohenheim) 2006 (UTB ; 8324).
Ich komme vom Dorf, einem richtigen Dorf mit damals 300 Einwohnern und ich kenne noch das Dorf, dem noch viele nachtrauern, dem mit Bauern und Landarbeitern, mit einem Dorfladen, einem Bäcker, einer Post, einer Kleinbahn, einer Molkerei, einer Ziegelei. Das Ende der meisten dieser Einrichtungen habe ich sogar auch noch erlebt, als ich Mitte der 1970er Jahre verlassen habe. Danach habe ich noch einmal 18 Jahre in zwei größeren Dörfern gelebt und "nebenbei" in vielen Dörfern als Historiker gearbeitet (Projektseminare zu Dorfgeschichte, begleitende Veranstaltungen zur Dorferneuerung), habe Weiterbildungskurse für Heimatforscher gegeben und dazu auch kleine Bücher produziert. Mein Dorfbild ist also sehr konkret und es ist eines aus der Perspektive von unten, denn meine Familie gehörte zu den "kleinen Leute", Tagelöhner, Mägde, Schneider, Ziegeleiarbeiter, Arbeiter. Außerdem und vor allem habe ich mich wissenschaftlich immer wieder mit ländlichen Themen beschäftigt. Das, was ich hier jetzt schreibe, ist aber dennoch eine Zumutung, denn es fasst Dinge zusammen, die jeweils für sich lange Forschungsdiskurse benötigen. Dazu fehlt mir im Augenblick die Zeit und deshalb diese kritische Skizze.
Die sehr unterschiedlichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnten haben den Blick vielleicht geschärft für manche verharmlosenden Bilder vom Dorf, vom vermeintlich einfachen Leben auf dem Lande, von der Dorfgemeinschaft. So wie es immer wieder selbst in wissenschaftlichen Werken beschrieben wird, habe ich Dorf weder auf der einen (der eigenen Erfahrung vornehmlich in den 60er Jahren) noch der anderen Seite (bei Weiterbildungen in vielen norddeutschen Dörfern und als Wissenschaftler) erlebt. Diese einfachen Bilder vom bäuerlichen Dorf, von Gemeinschaft und von Stabilität sind mir genau genommen nur selten begegnet. Dagegen gab es immer mehr Bewegung, immer mehr Hierarchie und mehr Konflikt als dies in den meisten Darstellungen angedeutet wird.
alternative Wahrnehmungen von Dorf: Bewegung, Hierarchie, Konflikt
Zur Bewegung: Dorfbewohner waren auch in der Vergangenheit in Bewegung, sie waren mobil. Das widerspricht gewiss unseren allgemeinen Vorstellungen von einem abgeschlossenen Lebensbereich Dorf. Es widerspricht auch der Vorstellung von einem auf Subsistenz angelegten ländlichen Leben. Klar, die Gesellschaft der Vormoderne war ländlicher, viel ländlicher als unsere heutige Gesellschaft zumindest in Mittel- und Nordeuropa. Aber wenn praktisch alle gesellschaftlichen Gruppen eine mehr oder wenige enge Bindung an das Land benötigten (in den Städten gab es die Ackerbürger, der Adel bewirtschaftete Güter, Bürger taten es ihnen gleich, viele Beamte hatten ebenfalls eine agrarische Basis), dann war die agrarische Basis fast aller Dorfbewohner nichts Besondereres. Aber wie genau sah sie aus? Zur Beantwortung dieser Frage müsste eine starke regionale Differenzierung vorgenommen werden. Jedenfalls beruhte sie nicht allein auf der Landwirtschaft, sondern es gab starke gewerbliche Anteile, speziell in den Dörfern mit heimgewerblichen, protoindustriellen Ansätzen. Die interne Differenzierung der Dörfer dürfte aber auch in anderen Regionen viel stärker gewesen sein als dies vereinfachte Bilder vom Dorf immer nahe legen. Wir wissen etwa von Regionen, in denen viele Dorfbewohner als Wanderarbeiter, als Wanderhändler (etwa die Tödden) oder als Musiker unterwegs waren. Beschäftigte in herrschaftlichen Forsten oder Bergwerken gab es ebenfalls. Das Spektrum der Tätigkeiten war oft sehr groß und läßt sich nicht allein auf agrarische Tätigkeiten reduzieren. Dass praktisch jeder versuchte, über wenigstens etwas Zugang zu Land (Pachtland und/oder Gemeindeland) ein wenig Viehwirtschaft und Ackerbau betreiben zu können, war Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen Praxis. Diese Gruppen auch zu den Bauern zu zählen, mag vielleicht in Süddeutschland angemessen sein (aber auch da habe ich meine Zweifel, jedenfalls aber nicht im Norden). Wenn alle gesellschaftlichen Gruppen es als selbstverständlich ansahen, dass landwirtschaftliche Produktion einen Teil der eigenen Existenz ausmachte, können nicht alle Dorfbewohner mit Zugang zum Land als "Bauern" bezeichnet werden. Ich weiß, dass dies ein Position ist, die von dem internationalen Begriff der "peasants" abweicht, jedoch ist er in meinen Augen für die nord- und nordwestdeutschen Dörfer angemessener.
Die Bauern im engeren Sinn, also die großen und mittleren Betriebe, die von ihren Höfen allein leben konnten, waren spätestens seit 1700, oft aber auch schon vorher eine zahlenmäßige Minderheit im Dorf.
Damit ist aber auch das Konstrukt der Dorfgemeinschaft, bis ins 20. Jahrhundert immer wieder von bürgerlichen Apologeten des Dorfes betont, eine in sich fragwürdige Angelegenheit. Betrachtet man etwa die innerdörflichen Auseinandersetzung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann im Jahr 1848, so wird deutlich, dass die Interessen der verschiedenen Gruppen im Dorf keineswegs identisch waren, sondern weit auseinander klaffen konnten. Das ist auch nicht verwunderlich, denn der Zugang zum Land entschied grundlegend über die Stellung im Dorf. Doch auch wenn die Bauern im engeren Sinn eine zahlenmäßige Minderheit darstellten, so verfügten sie doch über den größten Teil des Landes. Sie waren zwar feudal gebunden, aber das bedeutete nicht, dass sie eine entscheidende Rolle im innerdörflichen Sozialsysem hatten. Vielmehr war ihr fast exklusiver Zugang zum Land gekoppelt mit ihrer bedeutenden Rolle als Arbeitgeber, und zwar nicht nur für die saisonalen Feldarbeiten, sondern auch für die Heranziehung der dörflichen Unterschicht zu feudalen Dienstleistungen, die zwar die Bauern zu sichern hatten, die aber faktisch von den Angehörigen der dörflichen Unterschicht zu erbringen waren. Mit der Modernisierung der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert und den dadurch erhöhten Arbeitsaufwand verstärkten sich diese Abhängigkeiten. Allerdings konnten nun die Unterschichten eher ausweichen, zunächst in die Amerika-Auswanderung, dann in die Industrie bzw. in die Städte. Es setzte ein verbissener Kampf um die zur Abwanderung bereiten Dorfbewohner ein, der auch ideologisch ausgefochten und umgedeutet wurde. Aus einer bewußten Entscheidung der Dorfbewohner gegen ein wenig selbstbestimmtes Leben im Dorf und für den Aufbruch in neue Möglichkeiten wurde - ganz im Sinne bürgerlich-konservativer Ideologen - eine von den Städten und der Industriegesellschaft verursachte "Landflucht". Sie geistert bis heute in den Köpfen nicht nur mancher Ideologen, sondern auch von Sozialwissenschaftlern, Planern und Architekten herum. Dahinter steckt offenbar die Vorstellung, dass das Dorf als "Sozialraum" trotz mancher Interessengegensätze eine heile Welt darstellt, die erst durch außerdörfliche Störungen aus dem Gleichgewicht gerät.
Würde man sich vom "Sozialraum" oder der "Dorfgemeinschaft" abwenden und konkreter die in Dörfern lebenden Menschen und deren Wege über Generationen hinweg untersuchen, könnte eine Bild entstehen, das nur noch wenig gemein hat mit diesen Bildern abgeschlossener soziale Beziehungen. Hier hilft schon der Blick auf die einzelnen sozialen Gruppen im Dorf. Bauern waren untereinander verwandt (und ja, auch mit den Unterschichten, aber zu denen gleich), sie heirateten in recht geschlossenen Kreisen untereinander. Das allein schloss rein innerdörfliche Beziehungen aus, denn dafür gab es überhaupt nicht genügend Personen, die als Heiratspartner infrage kamen. Also wurde nicht im Dorf, sondern in kleinen Regionen geheiratet, die in der früheren Forschung auch als "Heiratskreise" bezeichnet wurden. Nimmt man Verwandtschaft als ein wichtiges strukturierendes Element dörflicher Beziehungen, so war diese schon aufgrund dieser Heiratskreise eben nicht innerdörflich organisiert, sondern über mehrere Dörfer hinweg, wobei hier keine genauen Grenzen gezogen werden können. Kein Wunder also, dass Bauern sich über Dörfer hinweg untereinander trafen und ihr soziales Leben pflegten.
War es für die bäuerliche Bevölkerung die Notwendigkeit, geeignete Heiratspartner zu finden, die zu dazu "zwang" sich außerhalb des eigenen Dorfes zu orientieren, so waren es für die unterbäuerlichen Dorfbewohner andere Sachzwänge, die sie zur Mobilität zwangen und zwar die fehlenden Wohn- und die oft nicht dauerhaften Arbeitsmöglichkeiten. Die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in manchen Regionen schnell anwachsenden besitzlosen Unterschichten wohnten als Mieter (auch Mietlinge, Einlieger oder Heuerlinge bezeichnet) bei Bauern. Daraus wurden, ganz im Sinne konservativer Ideologen, "patriarchalische" Beziehungen gemacht, in denen sich die Bauern für "ihre" Heuerlinge verantwortlich fühlten. Spätestens mit der Arbeit von Josef Mooser sollten aber diese Vorstellungen genügend dekonstruiert sein. Als ich übrigens vor über 20 Jahren in einer Siedlung im nordwestlichen Niedersachsen, die bis in die 1960er Jahre ebenfalls Heuerlinge aufwies, gearbeitet habe, wurde mir noch sehr deutlich gemacht, wie abhängig Heuerlinge von "ihren" Bauern waren, die sie notfalls über Nacht von den Stellen werfen konnten, die frei über die Arbeitszeit verfügten und ihre Macht ausspielten. Gleichzeitig wollte niemand zunächst so recht über diese Stellen sprechen, die übrigens in den 1960er Jahren meist bei Feuerwehrübungen "entsorgt" wurden. Das Stigma von Abhängigkeit und Armut war noch zu bekannt!
Unterschichtangehörige mussten mobil sein, sie hatten keine andere Chance, ihre Existenz in dem einen Dorf dürfte - aber darüber wissen wir zu wenig - wenn überhaupt die Ausnahme gewesen sein.
Jetzt könnte man einwenden, ob es denn das "Dorf" mit seinen kulturellen, sprachlichen und sozialen Eigenheiten überhaupt gab. Ja, es gab es, denn dazu waren die Einwohner in ihrem Alltagsleben zu sehr aufeinander bezogen. Aber dieser "Sozialraum" war nicht exklusiv, sondern er stand in Beziehung und vielleicht auch in Konkurrenz zu anderen sozialen und kulturellen Beziehungen, in denen die Dorfbewohner als Individuen und Angehörige von Gruppen standen.
Bleibt noch die vermeintliche Statik oder vielmehr die Dualität der Wahrnehmung von Dorfgeschichte. Dualität meint: das alte Dorf vor der Moderne und das neue Dorf in der Moderne, wobei die Bruchstelle irgendwo zwischen dem Kaiserreich und der Bundesrepublik liegt, immer aber als eine Verlustgeschichte wahrgenommen wird.
War sie das wirklich? Und vor allem: Gibt es vor der Moderne keine Geschichte des Dorfes? Es spricht einiges dafür, dass Dörfer immer Teil gesellschaftlicher Entwicklungen waren, d.h. in diese integriert waren. Zwar war allein ihre quantitative Bedeutung in der Vergangenheit schon allein deshalb größer, weil die Mehrzahl der Menschen auf dem Lande lebte und die Landwirtschaft der mit Abstand wichtigste produktive Bereich der Gesellschaft war. Aber das bedeutete nicht, dass damit Dörfer so etwas wie autonome Lebensbereiche darstellten. Sie waren - zumindest seit dem hohen Mittelalter - in Marktbeziehungen eingebunden, sie waren abhängig von herrschaftlichen Entscheidungen etwa über feudale Abhängigkeit oder über Erbrechte.
Spätestens mit dem 18. Jahrhundert entwickelten sich komplexe Formen der Verknüpfung lokaler und globaler Strukturen über die Protoindustrialisierung, die sowohl ökonomische wie soziale Prozesse auslösten, welche dörfliche Existenz entscheidend prägten. Die Krisenerfahrung des frühen 19. Jahrhunderts war nicht zuletzt eine Folge des Zusammenbrechens dieser komplexen und international vernetzten Ökonomie, die nur auf den ersten Blick lediglich lokal oder regional verankert war. Es wäre sicherlich spannend, sich einmal anzusehen, wie in Regionen mit unterschiedlichen Vernetzungsgraden sich diese Krisenphase des frühen 19. Jahrhunderts auswirkte.
Der nächste, nicht zu unterschätzende Entwicklungsschritt wurde durch die Agrarreformen markiert, wobei neben der Bauernbefreiung im engeren Sinn die Veränderung der Feldnutzung durch Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen zu beachten wäre. Diese Reformen wurden im Norden - d.h. sowohl im Nordwesten, im Norden als auch im Nordosten - schon sehr früh betrieben, im Westen und Süden dagegen viel später. Die Auswirkung dieser Reformen auf kommunale Strukturen und auf ökonomisches Verhalten ist bislang nicht vergleichend betrachtet worden, obwohl schon Zeitgenossen wie der Celler Salomon Gans vor deren schädlichen Folgen warnten.
Immerhin brachte die Industrialisierung einen ökonomischen und kulturellen Schub für die Dörfer. Für die Unterschicht bedeutete die Eigentumsübertragung des Landes an die Bauern endlich die Chance, auch Haus- und Grundbesitzer zu werden, wenn auch nur in bescheidenem Umfang und so, dass dadurch keine neuen dynamischen Entwicklungen wie in der Phase der Protoindustrialisierung eingeleitet wurden. Allerdings wurden mit der Industrialisierung und Urbanisierung die Dinge immer komplizierter, weil die realen Entwicklungen so disparat verliefen und gleichzeitig die Wahrnehmung dieser Entwicklungen ideologisch so beeinflusst war, dass es sehr schwer ist, sich hierdurch zu bewegen. Wie das geschehen kann, zeigt zumindest die Studie von Robert von Friedeburg.
Was allerdings fehlt, ist eine Einbeziehung dörflicher, lokaler Verhältnisse in überregionale, ja globale Kontexte. Wenn in der Zeit zwischen 1870 und 1945 sich eine neue globalisierte Welt entwickelte, dann müßte doch gerade das Dorf, das in dieser Zeit zum Hort aller modernisierungsfeindlichen Ideologen wurde, sich gerade in diesem Kontext neu entwickelt haben. Oder anders herum: Wenn die Dörfer vor 1850 ihre Existenz den Folgen der ersten großen Globalisierung in Form der Protoindustrie zu verdanken hatten, was bedeutete dann die nächste Phase als die Landwirtschaft von der nächsten Globalisierungswelle getroffen wurde, für die Interpretation des Dorfes? Wir tun dagegen immer so, als sei dies die "gute alte Zeit" gewesen.
Die Anerkennung der Tatsache, dass das Kaiserreich keineswegs der Nukleus des "richtigen Dorfes" war, sondern eine massive Modernisierungs- und Beschleunigungsphase darstellte, würde uns auch die Chance geben, die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gelassener wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es würde auch die Möglichkeit bieten, vor dem Hintergrund der ideologischen Kämpfe des Kaiserreichs gegen eine Industrialisierung und Urbanisierung der Gesellschaft mit all ihren sozialen und kulturellen Konsequenzen, einen neuen Zugang zu finden, der jenseits der Klagen über die Zerstörung dörflich-ländlicher Strukturen zugunsten der Städte auch die Entwicklungen berücksichtigt, die aus der Perspektive vieler Dorfbewohner positiv bewertet wurden. Das jedenfalls habe ich bei meinen Arbeiten in vielen Dörfern erfahren, das 20. Jahrhundert als eine Phase der Emanzipation von den Zwängen des alten Dorfes, der Bevormundung durch dörflich-bäuerliche Eliten, der Chancen individueller Lebensentwürfe, speziell für Frauen. Das ist allerdings eine andere Geschichte als die, welche landauf, landab erzählt wird. Sie ist in den letzten Jahren vermutlich durch viele weitere Erfahrungen ergänzt und überlagert worden.
Erwähnte Literatur:
Friedeburg, Robert von: Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit: Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1997 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 117).
Mooser, Josef: Ländliche Klassengesellschaft 1770 - 1848 - Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Bd. 64 /, Göttingen 1984 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft).
Jacobeit, Wolfgang; Mooser, Josef (Hg.): Idylle oder Aufbruch?: das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert ; ein europäischer Vergleich, Berlin 1990.
Grundlegend zur Geschichte des Dorfes:
Troßbach, Werner; Zimmermann, Clemens (Hg.): Geschichte des Dorfes, Stuttgart (Hohenheim) 2006 (UTB ; 8324).
KHSchneider - 1. Sep, 16:58