Digitale Geschichtswissenschaft
AG Digitale Geschichtswissenschaft
Heute fand in Braunschweig eine vielbeachtete Tagung der AG Digitale Geschichtswissenschaft im Deutschen Historikerverband statt - und ich bin nach einer Stunde enttäuscht gegangen. Vielleicht war das ein Fehler, aber das Interessante der ersten Stunde waren ohnehin nicht die "analogen" Elemente der Tagung, sondern die digitalen, sprich die Twitterkommentare (#digigw2103). Auf der Rückfahrt habe ich nicht nur weiter bei Twitter reingesehen, sondern auch überlegt, was mich so irritiert hat. Ich möchte das hier kurz zusammen fassen:
Zunächst und zuallererst hat mich die Tatsache verstört, als sei das Digitale noch immer etwas Neues. Vor 15 Jahren hätte ich das noch verstanden, aber nicht mehr heute. Wir sind längst alle in einer digitalen (ich habe hier mal von der dialogen Welt geschrieben) Welt angekommen, ob uns das nun passt oder nicht. Einige tun allerdings immer noch so, als gelte das nur in eingeschränktem Maße für sie. So konstruieren sie sich weiter eine analoge Welt. Dass die Bücher, auf die sich so gern bezogen wird, längst nur noch in Teilen analog sind, wird dabei gern vergessen. Von der Emailkorrespondenz, vom Nachschlagen in Wikipedia oder bei HSozKult ganz zu schweigen.
Daraus ergibt sich die Frage, weshalb wir von digitaler Geschichtswissenschaft sprechen, wo doch Geschichtswissenschaft wie unsere gesamte Wissensgesellschaft längst auf digitalen Beinen steht. Das Problem ist eher der Grad des Digitalen.
Damit hängt mein zweites Problem zusammen: Wenn letztlich alles digital ist, müssten wir stärker differenzieren zwischen unterschiedlichen, sagen wir mal, Nutzungsszenarien. Mir fällt da eine grobe Zweiteilung ein:
Zum einen die alltägliche Nutzung etwa über das Bloggen, das Arbeiten mit Studierenden über das Wiki in Stud.Ip oder über Moodle, das Bearbeiten von Wikipedia-Artikeln (gut, habe ich schon länger nicht mehr gemacht) oder einem anderen Wiki, wie unsere LWG. Dazu gehört für mich auch das Lesen von eBooks oder pdfs (etwa die Bücher aus digi20) und manches mehr.
Daneben ließe sich die wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinn positionieren, also größere digitale Projekte wie ein Buch bzw. eine komplexe Website, ein digitales Forschungsprojekt. Das ist der Bereich, der am ehesten mit dem traditionellen, in wissenschaftlichen Verlagen publizierten Büchern verglichen werden kann und bei dem sich das Problem der Qualitätssicherung am ehesten stellt.
Davon abgrenzen würde ich die großen Digitalisierungsprojekte der Archive und Bibliotheken. Das ist im Kern keine Aufgabe von Historikern und sollte m.E. hier nicht weiter diskutiert werden, auch wenn die Ergebnisse der Digitalisierung für Historiker von größter Bedeutung sind.
Was mich weiter wundert, ist die Haltung vieler Diskutanten, die eher in die Richtung geht: Ach, muss man das denn auf so neue Art machen, es ging doch auch anders (analog) ebenso gut. Oder: Ja, aber da ist doch die "Maschine" einfach zu präsent, wir dürfen den menschlichen Faktor nicht vernachlässigen. Was mir fehlt, ist eine Haltung, die etwa so formuliert: Es gibt da ein Problem, eine Frage, eine Herausforderung, die wir bislang nicht lösen konnten. Lasst uns doch mal sehen, ob wir das nicht mit Hilfe digitaler Möglichkeiten hinkriegen können. (Und das ist vorsichtig formuliert.)
Für mich sind immer noch die Genealogen vorbildlich. Sie brauchen viele Daten, um Lebenswege und Biographien verfolgen zu können. Diese Daten kann ein Einzelner oder eine kleine Gruppe nie zusammen stellen, aber viele, miteinander verknüpft Arbeitende können das dann doch. Etwa mehrere Millionen Datensätze von Soldaten des Ersten Weltkriegs erfassen, damit sie anschließend von anderen ausgewertet werden können. Warum kriegen wir Wissenschaftler das nicht hin? Ansätze gab es vor langer Zeit, als Stuart Jenks das Zeitschriftenfreihandmagazin mit vielen anderen Kollegen erstellte. Aus heutiger Sicht ist davon das Ergebnis veraltet, hier haben die Bibliotheken "ganze Arbeit" geleistet und es ist ein damals wohl kaum vorstellbarer Fortschritt gelungen. Die Methode aber ist, falls ich das richtig sehe, nicht fortgeführt worden. Die Methode besteht für mich darin, die uns an mehreren Stellen zur Verfügung gestellte Infrastruktur des Netzes zu nutzen und sie zu verknüpfen mit einem geringen Zeitaufwand. Wenn das genug Leute machen, kann etwas gelingen, was bis dahin nicht möglich war.
Ein Beispiel: Wir erfassen auf Anregung von Christoph Rass (der das in noch größerem Stil in Osnabrück macht) gerade Gefallenenlisten des Ersten Weltkriegs. Diese Daten sollen anschließend nach sehr unterschiedlichen Aspekten ausgewertet werden, etwa wo und wann die Soldaten gefallen sind, ob sie Ehefrauen hinterließen u.a.m. Ganz nebenbei führt uns die Auswertung dieser Daten auch zu einem neuen, differenzierten Verständnis des Krieges. Bei der Arbeit sind wir auch auf Orts- und Kirchenchroniken gestoßen. Vermutlich wird es in den nächsten Jahren weitere lokale Projekte geben, weil eine kleine Arbeitsgruppe (bei uns sind Studierende eines Projektseminars) nur ein begrenzte Anzahl von Daten erfassen können. Bei einem kollaborativen Projekt mehrerer Hochschulen würde sich die Datenbasis und würden sich die Perspektiven auf das Thema erheblich erweitern. Im Augenblick versuchen wir auf regionaler Ebene zu einer engeren Kooperation mit Laienforschern zu kommen ("Wissenschaft trifft Laienforschung" oder anders: Cizizen Science).
Das Faszinierende aus wissenschaftlicher Sicht besteht für mich darin, dass wir durch - kostengünstige! - Kooperation Zusammenhänge herstellen und vermitteln können, die mit den bisherigen Methoden überhaupt nicht denkbar waren.
Das geht aber in eine andere Richtung, in die freiwilliger Kooperation, gegen eine teure Drittmittelpolitik, gegen Institutionalisierung. Das soll sich nicht gegen gute und aufwendige Drittmittelforschung richten, aber Digital Humanities können m.E. in einem bestimmten Rahmen auch gut ohne Drittmittel auskommen.